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Eltern erzählen


I. Methode IMS aus Sicht der Eltern

Was hat sich für mein Kind durch Gebärden mit Methode IMS verändert? - Eltern berichten. Geschildert werden dabei ganz alltägliche Szenen, aber auch schwierige Herausforderungen und individuelle Eigenarten der Kinder - als Babys, in der Kindergartenzeit oder bis weit ins Grundschulalter.
Aus über 10 Jahren Praxis, d.h. Hunderten von Familien konnten hier nur wenige ausgewählt werden, deren Erlebnisse allerdings exemplarisch sind. Sie alle lernten in verschiedenen Zusammenhängen und Angeboten für kurze oder längere Zeit die Gebärden kennen.

Es kommen Eltern zu Wort, deren Jungen und Mädchen völlig unauffällig in der Entwicklung sind - gleichfalls jene, deren Kind von Geburt an besondere Hürden zu meistern hat.
Zweisprachigkeit sowie häufige Sprech- oder Sprachauffälligkeiten sind dabei Thema, ebenso Hyperaktivität, ADS und Konzentrationsprobleme, Syndrome und körperliche oder geistige Behinderung, Teilleistungsstörungen, Autismus, Epilepsie u. v. a. .

Um zudem einen Einblick in so manche Gesamtentwicklung gewinnen zu können, sind einige Beiträge ergänzt durch Daten aus mehreren Jahren - bei behinderten Kindern z. T. mit der jeweiligen Diagnose. Darüber wird nicht zuletzt eine Langzeitwirkung der Gebärden deutlich. Die Namen der Kinder wurden verändert (es sei denn, die Eltern wünschten es nicht).

Legen diese persönlichen Erfahrungen auch oft auf sehr unterschiedliche Aspekte wert, so sind sich doch alle in einem einig: Gebärden haben ihr Leben bereichert!


Ben*

Die Mutter des vierjährigen Ben erzählt:
"Es ist einfach faszinierend, wie geschickt und leicht mein Sohn jetzt zum Sprechen seine Hände bewegt! Ich sehe, dieses Gebärden fördert ganz spielerisch seine Konzentration, ohne dass er sich anstrengen muss. Und es macht ihm solchen Spaß!
Außerdem passt es zu seinem Entdeckergeist. Erst neulich hat er mir wieder erklärt, dass ich nur genau hinschauen soll. Dann würde ich direkt erkennen, was da los sei. Dabei zeigte er mir zu einem Lied die Gebärde für Karussell: ´Guck mal, Mama, meine Finger drehen sich ganz genauso, wie wenn ich da in echt drauf sitze und durch die Luft fliege`.
Ich merke, dass Sprache dadurch für ihn viel lebendiger wird, so richtig zum Anfassen."


Jakob*

"Für meinen Dreijährigen sind Gebärden Indianersprache", berichtet Jakobs Mutter. "Er trifft sich häufig mit seinen Jungs, die wie er ein paar Gebärden können. Sobald ich dann dieses Stichwort höre, weiß ich: Aha, es ist soweit. Die wollen uns Erwachsene mal wieder austricksen, indem sie sich da ihre Geheimzeichen geben. - Es ist schon amüsant, wie viel die kleinen Schlingel so draufhaben. Und wenn ich ehrlich bin, verstehe ich ja einiges davon auch wirklich nicht."


Luna*

"Ich war eigentlich immer schon fasziniert von der Gebärdensprache, wenn ich Gehörlose zufällig irgendwo auf der Straße sah, wie sie sich so mit den Händen verständigen und eine ziemlich lebhafte Mimik einsetzen. Doch ich hätte mich nie getraut, das zu lernen", erzählt die Mutter von Luna, einer aufgeweckten, fröhlichen Siebenjährigen mit roten Locken und Sommersprossen.
"Bis Luna die ersten Gebärden aus der Gruppe mitbrachte. Damals war sie schon fit im Sprechen und - wie mir der Kinderarzt bestätigte - sowieso ganz normal in ihrer gesamten Entwicklung. Als sie aber dann außerdem einiges auch noch mit den Gebärden ausdrücken konnte, machte sie das mächtig stolz.

Ich fand es toll, wie geschickt sie ihre Hände bewegte, denn mit dem Malen und Perlenfädeln hatte sie es ja nicht so. Ich wurde dadurch richtig angesteckt und hab dann gemerkt, dass der Einstieg gar nicht schwierig ist. Mit der Zeit baut sich einfach eins aufs andere auf.

Wir haben schon so viel zusammen gelacht, wenn Luna mir ihre neuen Errungenschaften gezeigt hat und ich raten musste, was es bedeutet. Doch ganz abgesehen davon glaube ich, dass sie durch dieses Sprechen mit den Händen ihre Finger üben konnte - was ihr ja jetzt beim Schreiben zugute kommt. Wie auch immer, ich kann nur sagen: Ihrem Selbstbewusstsein hat das bestimmt nicht geschadet!"


Paul*

"Paul ist unser Nesthäkchen. Es ist für ihn nicht immer einfach, sich gegen die beiden Großen zu behaupten. Aber das macht er inzwischen ganz souverän.
Durch die zwei Älteren hatte ich ja schon Erfahrung, wie so manches in der Entwicklung läuft. Und als Paul mit fast vier immer noch kein K sprach, war mir klar: ab zur Therapie!

Zu der Zeit hieß es ja ´tommst du tucken`, oder er hatte ´Deburtstagstuchen dedessen` und bezahlte mit mir an der ´Tasse` sein ´Taudummi`. Bei ´Spadhetti` haben ihn seine Brüder sogar aufgezogen, eben dass sein ´Daddy` gleich käme.

Als Paul in der Therapie auch Gebärden lernte, sah ich zwar erst mal keinen Zusammenhang, denn die Wörter an sich kannte er ja längst. Ich dachte nur: Solang`s ihm nicht schadet...
Aber wie er plötzlich mit dem K nach Hause kam, als wäre es nie anders gewesen - also das hat mich doch nachhaltig überzeugt.
Vorher konnte ich sehen, dass er beim Sprechen durch diese Bewegungen insgesamt lebhafter wurde, so energischer redete, bis eben bald dieses harte K auftauchte. - Nun, das Kapitel mit der Logopädie war für uns schnell erledigt."


Helen*

"Meine Tochter ist ein kleiner Wirbelwind. Sie musste sich schon immer viel bewegen, sonst fehlt ihr was. Jetzt ist sie drei und singt sehr gern. Seit sie das mit den Gebärden kombinieren kann, macht es ihr noch viel mehr Freude! Es entspricht genau Helens Temperament. - Aber ich denke, in dem Alter sollte eigentlich jedes Kind die Sprache so lebendig erleben können!" 


Max*

"Mein Sohn Max ist in seiner gesamten Entwicklung verzögert. Während der Geburt hat er nicht genug Sauerstoff bekommen und musste mit Kaiserschnitt geholt werden. Außerdem ist er ein Frühchen. Da braucht er jetzt in allem halt etwas länger. - Also, das war am Anfang ganz schön viel für uns.
Na ja, nicht bloß am Anfang. Mit dem Sprechen zum Beispiel hat er ja auch lange auf sich warten lassen. Ich dachte erst: ´Wie soll das nur werden!` Oft wusste ich ja gar nicht, was er wollte. Bis er dann in der Therapie mit Gebärden anfing.
Plötzlich ging alles Schlag auf Schlag! Ich konnte ihn viel deutlicher verstehen, ob er nun gerade Durst hat oder einfach nur beschäftigt sein will.
Ich weiß noch, dass er einmal, als es heiß war, unterwegs im Wagen wieder ziemlich quengelte. Seine Flasche war leer und ich natürlich direkt nervös. Da machte er diese Gebärde für ´Hase`, so bloß mit einer Hand hoch am Kopf, und ich wusste sofort: Er war einfach müde und suchte sein Kuscheltier!
Seit den Gebärden ist Max immer ausgeglichener geworden. Er schreit viel seltener, und ich fühl mich jetzt längst nicht mehr so hilflos. Das hat uns beide nochmal richtig ein Stück näher zusammengebracht.
Mittlerweile kann er trotz seiner Spastik recht viel ausdrücken. Und allmählich fängt er sogar mit dem Sprechen an."


Christina und Laurenz*

Der Vater, ein Mathematiklehrer, erzählt von seinen Kindern:
"Meine vierjährige Tochter lernt die Gebärden ja in ihrer Musikrunde. Seitdem ist es ein Genuss, auch zu Hause mitzuverfolgen, wie sie das in allem möglichen unterbringt. Inzwischen wird nämlich nicht nur mit anderen aus der Gruppe bloß zu den Liedern gebärdet. Manchmal kann ich außerdem hören, wie sie sehr interessante Gespräche darüber führen.
Dann geht es meist um richtig oder falsch. Ich könnte da gar nicht mitreden. Aber die machen das schon. Am Ende sind sie sich einig. Danach wird das Ganze einfach noch mal gesungen.

Letztens erzählte mir Christina, dass sie den anderen erklärt hätte, warum das Wort "alle" etwas mit der ganzen Welt zu tun hat. Sie meinte: ´Das kann man doch sehen!` und zeigte mir in Zeitlupe, quasi zum Mitschreiben für Anfänger, die beiden Gebärden für ´alle` und ´Welt´. Ich konnte darin die runde Form erkennen, also diese Bewegung, und sie schlug mir vor, das einfach mal stumm auch mit geschlossenen Augen zu probieren: Weil man`s so gut in den Fingern spüren würde!
Woraufhin sich Laurenz, mein Ältester, einschaltete und ergänzte, dass im Unterschied dazu die Gebärde ´Himmel` bloß eine Halbkugel andeutet. Deshalb müsste ich auf der Hälfte der Bewegung stoppen. Ich sollte mir einen Ball vorstellen, den dann in der Mitte teilen, also am Horizont, weil der sichtbare Himmel da aufhören würde und die Sonne ja nicht um die Ecke scheinen kann. - O. k., soweit konnte ich ja nun wirklich folgen!
Aber dabei wurde mir mit einem Mal klar: Die Kinder denken durch diese Gebärden ja in Zusammenhängen und werden schon spielerisch in räumliche Vorstellungen geführt, ganz altersgerecht. - Ein herrlicher Abstecher in die erste Geometrie!"


Ole*

"Ich selber kenne längst nicht so viele Gebärden wie mein Großer, der jetzt fünf ist. Aber ein paar davon gehören inzwischen bei uns zu Hause zum Standard. Zum Beispiel: ´warte` oder ´langsam`. Zwei einfache Handbewegungen - das wirkt Wunder!
Ole will nämlich meistens alles sofort, am liebsten sogar mehreres auf einmal. Er hat bei vielem keine Zeit, mit den Augen gleich schon beim Nächsten. Doch wenn ich jetzt sage: ´Sieh mich bitte an` und dazu diese Gebärde mache, das zieht seinen Blick an, und er wartet tatsächlich auch mal eine Antwort ab. - Wie Magie!
Außerdem verschafft`s mir selber eine kleine Atempause. Ich bin froh, dass ich den Tipp in der Beratung bekommen habe. - Ach übrigens, er will jetzt Englisch als nächste Sprache lernen..."


Kathy*

Der Vater von Henrik und Finn, Zwillingen, die bald ein halbes Jahr alt sind, berichtet:

"Ich war über Ostern bei meinen Freunden in Amerika. Die haben jetzt auch eine Tochter, Kathy, die ungefähr ein Jahr alt ist. In den ersten Stunden war ich ein paarmal etwas verwirrt, wenn die Kleine irgendwas mit ihren Händchen machte, als wollte sie schon was sagen und die beiden Großen darauf reagierten. Zunächst hab ich gedacht, das wären so bestimmte Eigenarten, die sie halt von ihrem Kind kennen. Aber als ich später nachfragte, erfuhr ich: Nein, das sind Gebärden, die sie alle zusammen in einem Kurs gelernt haben.

Meine Freunde haben gelacht, als ich meinte, es sähe aber für mich so aus, als würde Kathy sich eigentlich schon richtig ausdrücken können. Sie sagten, das sei auch tatsächlich so, und die Gebärden würden jetzt genau zum Sprechenlernen passen. Bei ihnen in den USA werden diese Kurse übrigens schon seit einigen Jahren angeboten.
Später erzählten sie mir, dass das so manches erleichtert hätte, seit Kathy ein halbes Jahr alt war, weil sie damit früh sehen konnten, was sie will. Und dadurch würde sogar ihre gesamte Sprachentwicklung angeregt.
Am meisten hat mir allerdings imponiert, über was die Drei da richtig im Gespräch waren. Ich möchte jetzt unbedingt, dass wir das für unsere Zwillinge auch anfangen."


Benedikt und Theresa*

Benedikt, in seinem Aussehen ein nordischer Typ mit hellen, kurzen Haaren, sanften, blauen Augen und großgewachsener, schlanker Gestalt, begegnete mir mit fast fünf Jahren als ein ernster, ausgeglichener Junge, der gern den Dingen auf den Grund ging. Mit Freude versenkte er sich in ein Spiel und äußerte oft dazu tiefsinnige Gedanken. Dabei war er unbeschwert und offen für jede Entdeckung. - Turbulenzen allerdings oder laute Geräusche behagten seinem Naturell nicht sonderlich.

Seine knapp zwei Jahre jüngere Schwester, Theresa, hingegen suchte eher das Abenteuer. Aus großen, temperamentvoll sprühenden Augen unter meist zerzausten, dunklen Locken, war sie sofort angezogen von uneinschätzbaren Ereignissen. Ihre kleine, kraftvolle Statur schien der Erde recht verbunden und strahlte dabei eine pulsierende Präsenz aus. Sie liebte es, mit ihrer Freundin ausgelassen herumzutollen und kostümiert in Rollen zu schlüpfen.

Da die Familie bald den Wohnort wechselte, waren beide Geschwister nur kurz in Kontakt mit Gebärden gekommen.

Jahre später - Benedikt ist inzwischen bereits zwölf und Theresa zehn - erzählt die Mutter:
" Noch heute gibt es Situationen, da greifen die Zwei plötzlich die Gebärden von damals auf. Sie haben das so geliebt! In dem Singkreis einmal die Woche wurde ja immer gebärdet. Und wenn ihnen das jetzt in den Sinn kommt, erinnern sie sich noch an viele Lieder, die damit begleitet wurden. Das fängt meist an mit `Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder...´.
Ich muss staunen, wie viel sie davon sofort parat haben, obwohl es ja schon so lange her ist.

Wenn sie mit dem Gebärden loslegen, gibt es meistens gar keinen äußeren Anlass. Außer dass Theresa sich ab und zu noch mit ihrer alten Freundin von damals trifft. Dann hocken die zwei Damen wie eh und je zusammen, spielen und erzählen. Und nicht selten kommt es vor, dass sie auch mal eben schnell was gebärden. Es ist herrlich zu sehen, welchen Spaß sie haben. Schade, seit unserem Umzug ist das nie mehr irgendwo aufgegriffen worden."


Mathilda*

"Als meine Tochter vier war, wurde mir mitgeteilt: Sprachförderung ist angesagt. Das war mir gar nicht so klar und hat mich auch erschreckt. Ich dachte nämlich bis dahin: Mathilda macht zwar manchmal Fehler beim Sprechen, aber das kommt noch. Sie war ja in ihrer ganzen Entwicklung ansonsten völlig normal.
In den Tests allerdings zeigte sich wohl, dass sie zu oft die Laute in den Wörtern verdreht hat. Mir wurde ja erklärt, dass sich das später aufs Schreiben auswirken könnte.

Als wir dann mit der Therapie angefangen haben, hab ich mich erst gefragt: Was hat denn das mit Gebärden zu tun?! Ist das nicht viel zu viel, wenn sie die jetzt auch noch lernen soll? Doch ich muss zugeben: Mathilda hat das enorm schnell mitgemacht, sogar mit Feuereifer. Ich konnte richtig zusehen, wie ihr das was brachte, d.h. ich konnte es eher hören! So, als würde sie durch diese paar Handbewegungen die Wörter im Mund besser ordnen können.

Außerdem glaube ich, sie bekam dabei einfach das Gefühl, etwas Besonderes zu können, also nicht: etwas nicht zu können!
Mit dem Sprechen ging auch alles ganz fix. Ich bin so froh, dass das für uns lange vor der Schule erledigt ist und sie sich seitdem natürlich auf jede Menge anderes konzentrieren kann."


Jasper*

Jaspers Mutter erzählt: "Mein Sohn ist jetzt sechs Jahre alt und wird demnächst eingeschult. Wir waren immer darauf bedacht, ihn zu einem selbstbewussten Jungen zu erziehen, und - na ja, ich denke, das ist uns bisher jedenfalls einigermaßen gelungen!"
Sie lacht und wiegt ihren Kopf vielsagend hin und her, bevor sie fortfährt:
"Ehrlich gesagt, manchmal ist genau das aber im Zusammenleben gar nicht so einfach. Zu gern meint Jasper nämlich, bei allem und jedem mitdiskutieren zu können. Mein Mann und ich finden es ja toll, dass er seine Meinung frei äußert und für sein Alter schon ziemlich gute Argumente ins Feld führt. Doch ich muss zugeben, wenn ich einen anstrengenden Tag hinter mir hatte, dann kann es schon mal an die Nerven gehen, wenn er partout nicht die Zähne putzen will oder sich dreht und wendet, um noch nicht ins Bett zu müssen.

Seit einiger Zeit allerdings haben wir offenbar eine frappierend überzeugende Lösung für uns gefunden, um solche Spielchen abzukürzen. Das klappt hervorragend und macht sogar Spaß! Nein, keine Verhandlungen mehr, sondern: Wir gebärden! - Und zwar kurz und bündig!

Das haben wir von Jasper gelernt, der das aus der Gruppe mit nach Hause gebracht hat. Und seit wir Großen es auch benutzen, also so zwischendurch, eben vor allem in den Situationen, wenn einfach noch so viel Reden nichts nützt, dann stellen wir uns hin und zeigen ihm bloß mal eine Gebärde: ´Stopp!` oder ´schnell`. Oder ich gebärde ´Zähne putzen` oder ´gehen`, was so viel heißt wie: ´Jetzt ab ins Bett!`. - Schon ist Ruhe.
Wir sind immer baff, wie toll das klappt. Vielleicht liegt es daran, dass die Zeichen so klar sind, irgendwie konkreter, als wenn man nur redet - für Jasper zumindest beeindruckender.
Und ich muss zugeben, ich fühl mich auch selber dabei ausdrucksstärker. Es verpufft einfach nichts." Sie lächelt verschmitzt. "Genau das ist es wahrscheinlich: nicht Schall und Rauch."
Die letzten Wörter hatte sie augenzwinkernd mit den Fingern in Anführungszeichen gesetzt.

"Mein Mann und ich haben nach den ersten Malen gemerkt: Das nutzt sich gar nicht ab! Also, der Verblüffungseffekt konnte es wohl nicht sein. Aber es ist uns etwas Anderes aufgefallen: Wenn wir uns so verhalten, fühlt Jasper sich keineswegs bevormundet, sondern im Gegenteil, ernst genommen. Irgendwas in den Gebärden ist für ihn fair. Ich kann das gar nicht genauer beschreiben. -  Na ja, wie gesagt: Es funktioniert! Und seitdem sind diese abendlichen Szenen bei uns viel entspannter geworden."


Fanny*

"Wir gingen alle auf dem Zahnfleisch und hatten ja wirklich schon so einiges durchprobiert. Angefangen früher mit der Schrei-Ambulanz, dann übers Turnen bis zur Familienberatung.
Schließlich bekamen wir den Termin in dieser Fachabteilung an der Klinik, die sich ja auf ADS spezialisiert hat", berichtet der Vater der fünfjährigen Fanny.
"Die Diagnose war auch schnell klar und für uns irgendwie eine Erleichterung. Aber was nun?! Das Kind hatte einen Namen, doch wir kannten ja bereits etliche Ratschläge, die bei uns nicht allzu viel bewirkt hatten. Ritalin wollten wir auf keinen Fall.

Man kann jetzt nicht sagen, dass Fanny die Ruhe selbst geworden ist. Doch diese Gebärden bündeln eindeutig ihre Konzentration. Sobald sie sich da mit den Händen betätigt, nimmt ihre Hyperaktivität sichtbar ab. Dann ist sie eben gezielt beschäftigt, statt schon wieder auf Kurs zu sein. Sie redet ja auch gern. Und eins ergibt das andere: Mit den Gebärden schaut sie hin, spricht ruhiger, bleibt länger beim Thema und kann auch mal mehr von anderen mitkriegen.

Es ist nicht so, dass wir nun den ganzen Tag gebärden würden. Allerdings, Einzelnes ist bei uns schon Standard geworden. Ganz einfache Sachen wie ´essen` oder ´sitzen`, quasi als Zeichen zum Luftholen. Fanny selber überrundet uns inzwischen mit dem Repertoir, was sie drauf hat und zieht sich damit selber zwischendurch auf den Boden zurück. - Endlich können wir mal aufatmen und sehen allmählich Land."


Johannes*

Der Vater von Johannes berichtet:

"Nachdem unser Ältester ein Jahr im Kindergarten war, sind wir ja umgezogen. Damit musste er auch in die andere Einrichtung. Bis dahin war er immer ein recht stiller Vertreter gewesen, und wir hatten natürlich Sorge, ob er sich mit dem Wechsel noch mehr zurückziehen würde. Tat er auch.
Aber dann kam es eben rasant. Nach kurzer Zeit schon drängte er von sich aus, wann wir nun endlich zur Gruppe losgehen würden. Bald wollte er außerdem andere nach Hause einladen, was wir vorher nicht von ihm kannten. Und überhaupt kam er mehr und mehr aus sich raus.

Eines Nachmittags beim Abholen habe ich dann gesehen, wie er wieder einmal beobachtend neben den anderen Kindern stand. Plötzlich wandte er sich aber an sie und bewegte die Hände beim Sprechen. Ich konnte nicht hören, worum es ging, war aber erstaunt, wie selbstsicher er wirkte und dass die Unterhaltung offenbar angeregt weiterlief.
Als ich ihn später fragte, was er denn da mit seinen Händen getan hätte, war die Antwort erst ein bedeutungsvolles Schnaufen. Er versuchte, nicht zu zeigen, dass er stolz war und meinte lässig: ´Na was wohl! Ich hab gebärdet. Die wollten mich nämlich nicht mitmachen lassen`.

Ähnliche Szenen mit ihm haben meine Frau und ich bald noch öfter erlebt. Wir sind so froh, dass wir in der Elternberatung den Tipp mit dem Gebärdenkurs bekommen haben! Johannes ist jetzt überhaupt nicht mehr so still wie früher und hat sogar eine richtig kräftige Stimme."


Johanna*

Die Mutter der fünfjährigen Johanna berichtet:
"Vor etwa einem dreiviertel Jahr fing Johanna an, sich beim Erzählen zu überschlagen. Das passierte ihr besonders, wenn es etwas Aufregendes zu berichten gab. Johanna blieb dann plötzlich bei einem Wort hängen und wiederholte einige Male dasselbe, bevor es weiterging.
Erst habe ich nicht so drauf geachtet, weil sie mit dem Sprechen noch nie Probleme hatte. Das legte sich aber nicht. Mit der Zeit hatte ich sogar den Eindruck, dass sie beim Atmen stockte.

Ich hab daraufhin mal im Internet unter Stottern nachgeschaut und mir gesagt: zumindest Beratung! Ich wollte bloß auf Nummer sicher gehen und einfach eine Fachmeinung hören.

Therapie war dann nicht nötig. Johanna hat ganz spielerisch über die Gebärden wieder in ihren Rhythmus gefunden. Und das Beste: Sie ist noch selbstbewusster als vorher!"


Adrian und Fiona*

Adrian ist von Geburt an bilingual aufgewachsen: Seine Mutter, eine Französin, sein Vater deutsch, redeten mit ihm von Anfang an konsequent in der jeweils eigenen Sprache. Als sie erfuhren, dass im Kindergarten, den Adrian ab seinem vierten Lebensjahr besuchen sollte, auch gebärdet werde, waren sie zunächst skeptisch. Sie befürchteten Überforderung oder zumindest eine unnötige Belastung für ihren Sohn. Ohnehin hatte er sich bis dahin in seiner Sprachentwicklung nicht ganz leicht getan.
Die Bedenken der Eltern verflogen jedoch schnell und wichen einer Begeisterung über dieses zusätzliche Angebot. Adrian, inzwischen sieben Jahre alt, beherrscht nun nicht nur ihre beiden Sprachen vollkommen, sondern gebärdet auch gern und viel. Ebenso seine Schwester.

"Es begann eigentlich direkt, als Fiona geboren wurde. Sie ist ja drei Jahre jünger, und er war erst ein paar Monate im Kindergarten", erinnern sich die Eltern.
"Damals, in der neuen Situation, hat er sich seiner kleinen Schwester oft ganz rührend gerade mit seinen Gebärden gewidmet. Das waren nicht viele, aber genau solche, die man gut so fürs tägliche Leben brauchen kann. Adrian zeigte ihr dann ´Milch` oder ´spielen` oder watschelte mit seinen Händen durch die Luft wie eine Ente - das war nämlich Fionas Kuscheltier.
Wir waren froh, dass bei ihm sowas wie Eifersucht gar nicht aufkam. Er hatte sofort für sich klar, dass er der Kleinen etwas beibringen konnte und bestand darauf, dass wir unbedingt auch alle gemeinsam mit dem Baby gebärden sollten.

Wir Großen hinkten zwar ständig hinterher, im Vergleich zu Adrian. Er lernte ja schließlich jede Woche Neues. Trotzdem hatte er Recht: Es hat Fiona eine Menge gebracht! Die Kinder fingen nämlich schon früh an, sich richtig auszutauschen. Sobald Adrian wieder eine Gebärde kannte, versuchte er, sie sofort bei ihr anzuwenden. Wir haben häufig gesehen, wie sie darauf erst ganz gebannt reagierte und dann auch verstand, worum es ging. Das war ein Jauchzen! Und Adrian war ganz stolz.
Außerdem war Fiona, lange bevor sie die ersten Wörter sprechen konnte, schon in der Lage, mit ihren kleinen Händchen selber was zu zeigen. Damals war sie vielleicht so sieben Monate alt. Natürlich konnte Adrian dann umso gezielter auf sie eingehen. Wir aber auch! So oft haben wir Großen nur gestaunt, wie deutlich sich ein Baby schon verständlich machen kann!"


Lisa*

Lisa, eine heute selbstbewusste, temperamentvolle Zehnjährige mit fröhlich sanftem Blick aus sehr dunklen Augen und einer quirligen, zarten Gestalt, war von früh an ganz in ihrem Körper zu Hause. Schon als sie drei war, liebte sie es, zu turnen und zu toben. Dann lösten sich bald ihre langen, schwarzen Haare aus dem Pferdeschwanz und flogen ihr wild ums Gesicht. Ebenso jedoch widmete sie sich konzentriert einem Spiel oder lauschte aufmerksam einer Erzählung.
Häufig hatte sie bereits in jener Zeit besonderes Vergnügen daran, anmutig durch den Raum zu tanzen. In ihrem starken Gefühl für Rhythmus und Melodien setzte sie Musik kunstvoll von Kopf bis Fuß um und probierte dabei mit dem ganzen Körper komplizierte Figuren aus.

Dies war umso beeindruckender, hatte Lisa doch - in ihrer völlig altersgerechten Entwicklung - eine Schwierigkeit zu bewältigen: ausgeprägten Strabismus. Das Schielen erschwerte ihr die räumliche Orientierung (z. B. in Bezug der Raumlage von Dingen), sodass sie auch schon mal daneben griff.
Im Alter von knapp vier Jahren wurde eines ihrer Brillengläser abgeklebt, was ihr nun das Sichtfeld fast permanent einschränkte. Sie musste optische Wahrnehmungen teilweise durch die anderen Sinne kompensieren. - Nicht selten war Lisa nachmittags sichtlich erschöpft.

Sprachlich spiegelte sich diese Erschwernis darin wider, dass sie Probleme mit Bezügen im Satz zeigte. Da die Beziehungen der Wörter zueinander im Grunde räumlich übertragene Verhältnisse sind, die grammatikalisch entsprechende Wortendungen verlangen, war sie dabei bisweilen unsicher.
Zudem hatte sie bei manchen Wörtern Mühe, die korrekte Lautabfolge auszusprechen.

Lisa war äußerst interessiert an den vielen Gebärden, die sie in der Gruppe lernte und deren Handbewegungen sie bald schon mit Präzision und rasantem Tempo einsetzte, wo immer es möglich war. Sie entwickelte eine unbeschwerte Lust an dieser körperlichen Umsetzung von Sprache im Raum.
Bei Spielen, die explizit mit Akustik arbeiteten, d.h. in denen z. B. die vom Band gehörten Geräusche einzelner Tiere oder menschlicher Tätigkeiten erraten werden sollten, war sie bald die Erste, die den gesuchten Begriff lauthals rief, während sie ihn zugleich gebärdete.

Ihre Hürden in der Sprachentwicklung verschwanden ohne Therapie.

Vier Jahre später berichtet ihre Großmutter:

"Das Gebärden damals hat Lisa richtig gut getan. Sogar heute noch greift sie das mit Wonne auf. Besonders mit ihrer alten Freundin zusammen sehe ich sie dann vor allem zu Liedern auch mit diesen Bewegungen agieren.

Gestern allerdings erinnerte sie sich einfach so daran und erzählte mir mit leuchtenden Augen, dass sie früher einmal in der Gruppe etwas Tolles gemacht hätten: Sie habe mitten im Kreis gesessen, und alle Kinder hätten erkennen sollen, welches Lied sie da ohne Worte gebärdete. Das sei ´Häschen in der Grube` gewesen. - Und sofort führte sie mir alles noch einmal vor. Ich wundere mich jedes Mal, wie stark diese Gebärden in so vielem helfen."


Laura

Laura lernte ich im Alter von fast drei Jahren kennen: ein faszinierend eigenwilliges Mädchen mit hellem und ernst beobachtendem Blick aus blauen Augen, mit dichten blonden Haaren, selbstsicherem Gang hinein in die Welt sowie einer ausgesprochen höflichen Aufmerksamkeit gegenüber anderen Menschen. Zugleich war dies bei ihr gepaart mit kraftvoller Vehemenz für das eigene Planen und Handeln. Sie strahlte sofort eine auffällige Selbständigkeit aus und den starken Willen, dies auch von sich aus als Freiraum zu fordern.

Aus späteren Gesprächen mit den Eltern war das alles mehr als nachvollziehbar, denn ihr Platz innerhalb der Familie war von liebevoller Geborgenheit geprägt, von besonnener Klarheit und umsichtiger Zugewandtheit, einem ansteckenden Lebensfrohsinn und dem festen Zutrauen in Werte. Von Anfang an wurde Laura rundum unterstützt im Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten.

Über die nachfolgenden vier Jahre wurde immer wieder deutlich: Laura gab das, was sie zu Hause erfuhr, auch an die anderen in ihrem Umfeld weiter und drückte dafür nicht zuletzt sprachlich geschliffen feinste Nuancen aus: in feinfühligem und geduldigem Respekt für ihr jeweiliges Gegenüber, einem erfrischenden Pragmatismus, wo solcher gefragt war, einer oftmals souveränen Abgeklärtheit gegenüber Dingen, die zu benennen, aber eben nicht zu ändern waren - ganz aus dem Vertrauen in sich selbst.
Dabei kommentierte sie gern schelmisch, ließ mit verstecktem Schalk gekonnt doppeldeutige Randbemerkungen fallen, erheiterte im Vorbeigehen gezielt mit ausgeklügeltem Wortwitz und nahm nebenher so manch Problematischem die Schärfe - durch ihren unschlagbaren Humor!

Ganz abgesehen von einem Faible, mit abstrakten Doppelbödigkeiten sprachlich zu spielen, wies ihr aktiver Wortschatz nach vier Jahren Therapie einen mindestens dem Lebensalter adäquaten Umfang auf, hob sich jedoch insofern eindeutig über das "Normalmaß" hinaus, als dass sie gern auch Begriffe aus der Schriftsprache wählte, um sich differenziert auszudrücken.

Geburtsdiagnose: Morbus Down.

Bei Eintritt in die Therapie beschränkte sich ihr Vokabular auf drei gesprochene Wörter: "Mama", "Kaki" (ihren Bruder Patrick) und ein unterschiedlich betontes "Ja".

Laura erschien damals, im Alter von drei Jahren, zunächst ein wenig in sich gekehrt, verhalten und machte im Zusammentreffen mit anderen etliches still für sich aus. Aus diesem Verhalten sprach eine Art stummer Einwilligung in leise beginnende Hoffnungslosigkeit, die spüren ließ, dass sie sich bereits daran gewöhnte, von anderen schwer verstanden zu werden. Jene Zurücknahme umgab sie wie eine kleine Wolke und stand konträr zur Gesamtausstrahlung und zu ihrer rein äußerlich natürlich bodenständigen Statur.
Von Fachleuten war sie geistig bis dahin m. E. maßlos unterschätzt sowie unterfordert worden - nicht zuletzt in Bezug ihres Sprachverständnisses.

Ab unserer ersten Begegnung kam Laura in Kontakt mit Gebärden. Sieben Tage später, d.h. nach gerade einmal zwei therapeutischen Einheiten, begann sie, zwei Tiergebärden ("Hund" und "Vogel") zu imitieren. Drei Wochen danach forderte sie gebärdend zum Zähneputzen auf, verlangte tags darauf mit der Gebärde "Brötchen" gezielt nach dem, was sie wollte und hatte dies, wie sich herausstellte, zu Hause sogar noch früher aktiv eingebracht. Von nun an war sie nicht mehr zu bremsen.

Sie forderte ständig mehr Gebärden, die sie schnell auch selbst umsetzte. Überdies ließ sie - entgegen ihrer genetischen Prädisposition - schon bald sogar die korrekte Artikulation einiger lautsprachlicher Wörter folgen wie etwa "Papa" und "Buch", "nicht", "doch" und "auch" oder "Pik" für die Gabel und "Laura".

Ihre Vorliebe galt, was die Entwicklung ihres Wortschatzes anbelangte, interessanterweise im Weiteren erst einmal nicht so sehr den Nomen, sondern eindeutig Adjektiven und Adverbien. Ganz ihrem energiegeladenen Temperament gemäß?!
Nach vier Monaten sprach sie circa 50 Wörter und gebärdete über 80 Worte.

Lauras Mutter berichtete in dieser Phase:" Es ist, als öffne sich plötzlich ein Tor, das so lange verschlossen blieb! Wie befreit kann Laura mit einem Mal durch dieses Tor treten. Sie kann  sich mitteilen, verständlich machen und auch auf Kleinigkeiten Bezug nehmen, was doch früher unmöglich war. Ich erlebe ganz intensiv: Ihr ist mit den Gebärden endlich ihre Sprache gegeben worden!

So lange hat sie darauf gewartet - haben wir alle mit ihr gewartet. Jetzt kann sie sich richtig  ausdrücken und zeigt derart lebhaft, was sie will und meint. Ich selber erfahre dabei auch so viel mehr von meiner Tochter! Vorher konnte ich ja oft nur erahnen, worum es gehen könnte. Dann wurde sie manchmal ungehalten, war frustriert oder gab nach kurzem auf. Ich hatte natürlich nicht selten ein schlechtes Gewissen, aber wusste ebenso wenig weiter. Das steht nun nicht mehr zwischen uns.

Außerdem kann ich sicher sein: Sie versteht ja so unglaublich viel! Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Früher war ich mir immer wieder zwischendurch unsicher, ob ich sie überfordere, weil sie eben nicht klar antworten konnte. Aber plötzlich zeigt sich: Sogar kompliziertere Dinge begreift sie durchaus schon.

Das Ganze ist wie eine Explosion - ja, Laura explodiert in ihrer gesamten Entwicklung! Täglich möchte sie Neues versuchen, stolz ihre Errungenschaften ins Gespräch einbringen und spürt ja selbst, wie sich alles verändert.
Wenn mein Mann abends von der Arbeit kommt, brauchen die beiden gar keine Anlaufzeit mehr, um sich auszutauschen. Er muss nicht erst etwas erfragen, sondern Laura bringt direkt selber Themen auf, von denen sie ihm berichten will. Wir teilen jetzt noch mehr Situationen zusammen und genießen das alle gemeinsam, weil Sprache doch bei etlichem ein wichtiger Schlüssel ist, den wir endlich für uns zur Verfügung haben."

Die Mutter dokumentiert ab da über lange Zeit exakt und fortlaufend Lauras Forschritte - sei dies gebärdend, sei es sprechend oder in Hinsicht anderer geistiger Leistungen. Hand in Hand wird engmaschig zusammengearbeitet. Von Tag zu Tag, von Monat zu Monat schreitet Laura kontinuierlich voran, baut den Wortschatz aus, verbindet Gebärden zu Sätzen und kombiniert zunehmend dabei die Aussprache der Wörter. Zu Hause werden die Gebärden intensiv in den Alltag integriert und zu einem natürlichen Bestandteil für die ganze Familie.

Nach einem Jahr steht Lauras "Ich" - auch in der Lautsprache stolz hörbar. Ihr Auftreten ist jetzt durchgängig selbstsicher und strahlend.
Sie differenziert inzwischen "anders", "gleich" und "ähnlich". Bei einem Theaterbesuch ist sie nach der Aufführung die Einzige unter Gleichaltrigen, die mit scharfem Blick realisiert: Eine Frau, die in Alltagskleidung durch das Foyer zum Ausgang geht, ist dieselbe, die kurz zuvor noch als Schauspielerin in ihrem Huhnkostüm und durch Schminke verfremdet auf der Bühne agiert hatte. - Eine Folge geschult visueller Wahrnehmungsfähigkeit durch Gebärden?!

Zu einem von Lauras stolz angeführten Lieblingssätzen wird: "Gleichzeitig mach ich das!"
Ebenso dies: ein Resultat der geübten Koordination von Hand- und Sprech-Bewegungen?

Drei Jahre nach der ersten Gebärde bildet Laura völlig selbstverständlich komplexe Sätze und erzählt Geschichten - etwa wenn sie mit Leidenschaft aus einem Buch "vorliest":
"Eines Tages kriecht die Slange da runter, nach unten links, und der Fis springt kopfüber in die Tonne. Und ruckizucki ist da ein Küken aus dem Ei geslüpft. Um Gottes Himmel nein! Ach Mens, da hab ich mich doch vertan! Das ist kein Huhnkind. Das ist eine Ente, die unter Wasser ist und taucht gleich wieder auf. Jetzt aufgepasst! Sei nicht so ungeduldig! Setz dich bitte hin, Ohren auf, und es geht weiter.
Eines Tages, morgens, da kam der Pinguin nach Hause, zur Tür herein, mit so gelben Augen
hat der und guckt zur Seite. Wie heißt das denn noch? Ach ja, ein Pärchen. Der Pinguin hat nämlich seine Frau mitgebracht und ist nicht gefährlich und lebt im Wasser und nicht auf der Wiese, sagt Käptn Blaubär..."

In der Spontansprache kommentiert sie flüssig, zum Beispiel:
"Ich habe einen dicken Wintermantel angehabt heute, der ganz warm ist. Aber soll ich dir mal was sagen?! Früher hab ich immer rosa gewählt, und jetzt kann es auch manchmal blau sein, aber nur manchmal! - O, guck, was ich gefunden hab hier! Noch einen anderen Sock. Guck mal, ist das richtig rum so? Das hab ich nämlich heute Morgen vielleicht so über Kreuz gemacht. So, erledigt, das haben wir son mal. Jetzt will ich aber malen.

Erst ein Kopf und dann auch Arme. Mich ist das. Ich male mal überall Haare hin. Ich bin das son wieder und noch die andere Seite. Noch ein Popo, fals, ach du meine Güte! Ich wechsel mal den Stift. Einen dicken Bauch.
Ich muss mir das mal angucken, ob ich was vergessen hab. Ist das so richtig so? Hab ich noch zwei Beine gemalt und meine Spangen da oben. Die hat mir die Mama in die ganzen Zöpfe hier alle geklippst, mit rosa und gelb und ein bisschen rot. Damit das wieder sön aussieht und passt zum Kleid. - So müsste das eigentlich richtig sein. Und meinen Ring am Finger noch. In die Ecke schreib ich L A U R A.
Hab ich dir son erzählt? Patrick, der ist älter als ich, der hat mir gestern, nein, vorgestern war das, hat er mir so ein kleineres Auto gesenkt. Als meine Mutter krank war. Und ich hab dann so gefuchtelt damit, weil ich das aufziehen wollte, damit das fährt. Und Patrick sagt zu mir: Bist du aber snell! Und ich hab gesagt: Du bist aber lahm!
So, jetzt will ich mein Ei essen. Da ist noch kein Küken rausgeslüpft. Kannst du mir bitte das Eiersalz rüberreichen? Ich hab jetzt was anderes zu tun. Also - Frau Deplewski, zügig arbeiten, hopp, hopp!"

Noch heute kann Lauras Mutter beobachten: Im Alter von 12 Jahren zieht sie manchmal, wenn etwas sie sehr stark emotional fordert, während des Sprechens schnell Gebärden heran. Damit gibt sie sich offenbar selbst Sicherheit oder baut eine Brücke (etwa für den Redefluss). Lässt sich dann von außen vielleicht nur die Minimalregung eines Fingers erkennen, so scheint dies doch für Laura selbst zur Initialzündung zu werden, der sie vertraut.
Ihre Sprechfreude ist offenkundig, ihre Rede seit langem gewandt, eloquent und nach wie vor - ein lustvolles Spiel im Genuss auch an Sprache an sich.

"Laura drückt sich ja seit so vielen Jahren durchs Sprechen aus und das nicht zu knapp. Aber neulich kam plötzlich das Thema auf Gebärden. Da holte sie ihr altes Buch vom Speicher, ihr Kölle-alaaf-Heft. Es war unglaublich: Auf Anhieb zauberte sie zu den Bildern die Gebärden wieder hervor, sogar solche, die ewig nicht mehr aufgetaucht sind", erzählt die Mutter.

"Nach all den Jahren hat das Gebärden allerdings trotzdem noch einen ganz besonderen Platz bei uns im Leben behalten: Es ist nämlich zur Geheimsprache geworden!
Wenn ich gerade in der Küche beschäftigt bin und Laura draußen mit anderen spielt, tritt sie manchmal aus einiger Entfernung in meine Sichtweite vors Fenster und gebärdet. Dann zeigt sie, was sie gerade braucht, ohne dafür den Weg ins Haus nehmen zu müssen. Das ist häufig praktisch und zeitsparend.
Allerdings kommt es ebenso vor, dass sie mir lediglich mal eben zuwerfen will, worum es da draußen so geht. In solchen Situationen hat sie eine geheime Freude daran, dass die anderen Kinder nicht verstehen, worüber wir kommunizieren.
Doch manchmal möchte sie auch nur einfach zum Spaß kurz an die alten Zeiten erinnern und schiebt dann mit einem Blick, der um so vieles weiß, ganz schnell gebärdend eine ihrer humorvollen Spitzfindigkeiten ein..."


Jonas*

Die Mutter des sechsjährigen Jonas berichtet: "Von einer integrativen Gruppe hatte ich mir versprochen, dass mein Sohn dadurch einen unverkrampften Kontakt mit Behinderten lernt. Na ja, wenn ich ehrlich bin, dachte ich dabei auch ein bisschen an mich selber. Man hat ja erst mal eigentlich so gar keine Vorstellung davon, wie man sich verhalten soll.

Auf jeden Fall kann ich bei Jonas merken, wie gut ihm diese gemischte Gruppe nun in vielem getan hat, und wie selbstverständlich die Kinder halt unter sich mit dem umgehen, was mich als Erwachsener doch ziemlich hilflos gemacht hat. - Früher, jetzt ist das nämlich anders.
Ich habe einen anderen Blickwinkel bekommen, für etliches. Das hat sich bei mir allerdings aus einer ganz anderen Ecke ergeben, als ich ursprünglich dachte. Nämlich durch die Gebärdensprache, die Jonas mit nach Hause brachte!

Hierzu muss ich vorausschicken:
Jonas erzählt noch heute nicht gerade viel von sich - trotzdem einiges meist beim Abendbrot. Und darüber habe ich dann auch nach und nach erfahren: Behinderung kann sich ja auf ganz Verschiedenes beziehen, nicht bloß auf Rollstuhl und sichtbare Probleme!
Ich lache jetzt, aber mein Horizont hat sich damit echt erweitert. Mir ist klar geworden, wie viele interessante Unterschiede es gibt, aus denen Jonas ja dann auch eine Menge für sich hat ziehen können. - Hier in Köln heißt es doch so schön: Jeder Jeck ist anders!

Der Groschen ist bei mir selber aber erst richtig gefallen, als Jonas mal wieder mit seinen Gebärden hantierte. Da erklärte er mir, dass Milch so gezeigt wird, als würde man melken. Und mit einem Mal hab ich begriffen: je mehr, desto besser. Andere Sprachen - andere Möglichkeiten!

Ich dachte: Er fängt also quasi zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn er nicht nur ein Wort sagt, das er kennt, sondern zusätzlich diese Bewegung dazu macht. Automatisch hat er noch weitere Anregungen im Kopf. Man denkt ja dann dabei nicht bloß: Milch.
Übrigens hat Jonas das damals genau so kommentiert: ´Mama, das kann man auch anders sagen. Denk mal an die Kuh!`.
In dem Moment klickte es bei mir: Wenn ich etwas zusätzlich gebärde, ist das nicht einfach doppelt gesagt, also zweimal Dasselbe, sondern noch mehr! Das heißt: Je mehr Auswahl, desto mehr Ideen - ob halt bei Sprache oder bei den Spielkameraden. Wer weiß, wofür Jonas das noch brauchen kann, wenn er demnächst in die Schule kommt...

So, das war jetzt eben nicht: Ham mer nit, kenne mer nit, bruche mer nit, sondern - tja, meine Geschichte von der Milch mit Melken und Kuh, Euter, Bauernhof - und all uns Jecken!"


Moritz*

"Als Moritz ungefähr dreieinhalb war, fiel mir auf, dass bei ihm die Wörter in den Sätzen oft noch ungenau waren. Er konnte eigentlich schon ziemlich gut sprechen. Das passte irgendwie nicht so ganz. Aber mein Mann und ich dachten, das liegt einfach am Alter.

Ein halbes Jahr später blieb das dann noch im Grunde unverändert. Moritz hat zwar wie ein Wasserfall geredet, doch immer wieder mit diesen Verdrehungen. Er sagte zum Beispiel: ´Da der Bagger hab ich geholt` oder ´gibst du mir ein Schaufel`. Wir mussten manchmal lachen, wenn dann kam: ´Die Wursten sind aber nicht klein geschneiden` oder ´hast du die Frauens geseht`.
Als der Arzt meinte, dass er gut hören kann, fanden wir es nicht mehr lustig und hatten Angst, dass sich das womöglich einschleifen könnte.

In der Logopädie wurde ja dann mit Gebärden gearbeitet. Und siehe da: Es kam alles in die richtigen Bahnen! Wir haben dabei erfahren, dass es bei Moritz mit kleinen Unsicherheiten zusammenhing, bestimmte Abläufe zu koordinieren. So als Laie erkennt man das ja gar nicht unbedingt.
Was wir aber erkennen konnten, war, dass er bei diesen Bewegungen mit den Gebärden die Sprache langsam in den Griff bekam. Und noch was: Dass er ziemlichen Spaß am Rhythmus zeigte. Inzwischen trommelt er, und beim Sprechen hat er keine Probleme mehr.
Neulich, als er mit meinem Schmuck spielte, fragte er mich glatt: ´Mama, warum heißt das eigentlich, deine Steine sind geschliffen, und ich hab die Kette über den Boden geschleift`?"


Eva*

Als sie mit drei Jahren kam, war ziemlich schnell klar: Eva spricht gern und viel. Schon vor der Tür hörte man sie erzählen, bevor sie mit großen Schritten den Raum betrat, ihn zügig, doch scheinbar ziellos durchquerte und dabei hörbar ihren Gedanken nachging.
Ihre immer etwas aufgerissenen, hellblauen Augen wandten sich fast jedem optischen Reiz in der Umgebung zu und lieferten ihr sodann Anknüpfungspunkte zu endlosen Kommentaren.

Nicht selten war es allerdings schwierig, diesen springenden Überlegungen von außen zu folgen, denn auf jenen "Ausflügen" verlor Eva rasch einen nachvollziehbaren Faden.

Auch ließ sich ihr Redeschwall meist nur schwerlich stoppen - zumal sie mit regungslosem Gesicht jeden Blickkontakt vermied. Dadurch bezog sie die Wirkung ihrer Worte gar nicht erst für ein kommunikatives Wechselspiel mit ein - weder mimische Signale des Anderen, noch einen stummen Zuspruch oder sein Desinteresse. Stattdessen schaute Eva beim Sprechen schräg zur Decke hoch, blieb dort mit den Augen hängen und monologisierte.

Der Klang ihrer feinen, hohen Stimme hatte in seinen Frequenzen etwas Befremdliches - entbehrte er doch fast jeglicher Modulation, war hyperton gepresst und verhaucht.

Jede ansatzweise verbindende Situation, jeder auch noch so ritualisierte Ablauf, wurde von
Eva schon nach wenigen Augenblicken verlassen. Es verursachte ihr ungemeine Anstrengung, länger als einige Sekunden an einem Ort zu verweilen. Dann sprang sie brüsk auf und wandte sich Neuem zu. Nie wartete sie die Antwort auf ihre Fragen ab. Das, was um sie lag, schien sie emotional nicht zu berühren. - Sie weinte nicht bei eigenen Schmerzen oder in Traurigkeit.

Dieses schlanke, blasse Mädchen mit seinem schlaksigen Gangbild und den stramm am Kopf festgebundenen, weißblonden Zöpfen strahlte etwas Ätherisches aus, bewegte sich oftmals geräuschlos, ja "katzengleich" und schwenkte wie hypnotisiert ihren Blick gen Himmel.

Nach kurzem zeigte sich, dass sie sich auf alles Schriftliche ausrichtete: Gedankenverloren las sie im Vorübergehen an einer Tür "Notausgang" oder ein anderes Mal den Herstellernamen des Videorekorders, des Fernsehers.....
In Filmaufzeichnungen, die sie selber zeigten, interessierten sie nur T-Shirt-Beschriftungen. All jene Namenszüge hatte sie aber keineswegs als ganzheitliche Bilder gespeichert.
Eva war mit drei Jahren des Lesens kundig!

Auf Nachfrage berichtete ihre Mutter stolz: "Natürlich! Unsere Tochter liest seit einiger Zeit. Auch schwierige Wörter. Sie hat damit irgendwann von sich aus angefangen. Vielleicht weil wir zu Hause viel mit ihr lesen und sie meinen Mann und mich ja auch dauernd mit Büchern sieht. - Also die Druckbuchstaben kann sie inzwischen alle verbinden, sogar ck oder x und y. Zwar manchmal noch etwas holperig, aber die meisten Wörter kommen fließend."

Diagnose: Autismus.

Ein Dreivierteljahr später war Evas Stimme schon ein wenig lebhafter. Bis dahin hatte sich allerdings noch einiges andere verändert...
Die Eltern erzählten: "Eva spielt jetzt bei privaten Treffen auch mal mit den anderen Kindern - zwar nicht lange, aber immerhin. Sie lässt sich zwischendurch sogar auf deren Ideen ein. Dann hört sie ihnen nicht nur etwas zu, sondern schaut sie auch kurz an. Und auffällig oft sucht sie dabei nach einer passenden Gebärde.
Außerdem liest sie den anderen vor - mit entsprechender Betonung und Spannungsbögen."

An den Gebärden hatte Eva schnell und sichtbar Gefallen gefunden. Nicht allein, dass sie sie in rasantem Tempo annahm, mit Akribie korrekt imitierte und bald selber aktiv zeigte. Sie unterbrach zudem angefangene Abläufe zunehmend seltener. Gerade gehörte Wörter wurden ihr weniger zu Stichworten für ausschweifende Reden. Stattdessen achtete sie wiederum hier, sobald ihr Gegenüber gebärdete, auf das Optische, eben die sichtbaren Handbewegungen und nahm dadurch fast zwangsläufig auch Blickkontakt auf.
Ihr Sprechen verlangsamte sich über die zusätzlich konkrete Gebärdenhandlung. Sie gewann dabei sogar Pausen für sich, in denen sie plötzlich innehielt und dem Gesagten wie in einem inneren Widerhall nachzuspüren schien.

Ihre Eltern stellten fest: "Sie singt momentan viel mehr als je zuvor. Vielleicht hat das etwas mit den gleichzeitigen Gebärden zu tun, die sie ja zu den Liedern lernt."

So intensiv Eva früher bereits Sprache gebraucht hatte, so sehr hatten ihre Worte oft hohl gewirkt, entbehrten sie doch - ihrem Alter völlig gemäß - häufig der zugehörigen Erfahrung.
Nun begann sie, sich im wahrsten Sinne zu bewegen: Sie stellte bisweilen Fragen, zeigte Verwunderung, Freude oder Enttäuschung und schien intensiver zu wissen, wovon sie sprach.
Hatte sie bereits früh sämtliche Begriffe zum Körperschema differenziert benennen können, so war aber deren altersgerechter Bezug auf ihre eigene Person fragmentarisch und unsicher geblieben. Ebenso dies wandelte sich, und sie entdeckte darüber hinaus besonders ihre Hände als spannendes Forschungsobjekt. Entsprechend wagte sie es allmählich, mit Materialien auf Tuchfühlung zu gehen, deren Berührung sie ehemals geängstigt hatte.

Als sie später etwas älter als vier Jahre alt war, schilderten ihre Eltern eines Tages:
"Morgens wird bei uns die Zeitung gelesen. Dann verlangt Eva natürlich ihren Teil. Seit einiger Zeit allerdings verfolgt sie dabei ein neues Thema: nämlich wie man einige Wörter gebärden könnte. Sie kombiniert dazu wohl, was sie kennt oder denkt sich was aus und hat recht viel Vergnügen daran.
Auch etwas anderes können wir feststellen: Inzwischen macht es ihr längst nicht so viel aus, in den Sandkasten zu gehen. Sie schreit dabei gar nicht mehr, sondern säubert sich einfach ihre Zehen danach mit dem Taschentuch. Dann betrachtet sie intensiv ihre Hände."

Im ersten Schuljahr wurde Eva nach sechs Monaten in die zweite Klasse versetzt und übersprang später auch die dritte.


Kurush*

Der iranische Vater von Kurush, einem Dreijährigen mit Down Syndrom, erzählt:

"Kurush ist unser erstes Kind. Ich bin Arzt. Wir wussten schon vor der Geburt, dass Kurush anders sein wird als andere Kinder. Aber wir wissen auch, dass wir viel mit ihm tun können.

Als er noch ganz klein war, ist meine Frau mit ihm immer zur Frühforderung gegangen. Wir sind froh, dass ihm hier in Deutschland so geholfen werden kann. Er hat auch schon viele Fortschritte gemacht. Das wird so weitergehen, Schritt für Schritt.

Durch die Logopädie entwickelt er sich sehr gut im Denken. Wir sehen das auch daran, wie er auf uns reagiert.
Zu Hause sprechen wir immer zu ihm mit den Gebärden. Das kennt er ja aus der Therapie. Dann versteht er schneller. Und jede Woche lernt er eine neue Gebärde. Wir auch. Er kann sogar schon einiges selber zeigen mit seinen Händen.
Im Gesicht sehen wir, dass er mehr als früher weiß, was wir sagen. Seit wir die Gebärden gebrauchen, hört Kurush richtig zu und schreit nicht mehr so oft ungeduldig. Das hat er nämlich früher viel getan, weil wir nicht erkennen konnten, was er wollte.

Die Ärzte konnten erst nicht genau testen, ob sein Gehör in Ordnung ist. Wir haben gedacht, er hört nicht genug. Aber wenn er jetzt mit den Gebärden antwortet, sind wir sicher: Er hört gut und passt auch mit den Augen ganz genau auf, was wir gebärden.

Kurush singt so gern. Wenn seine große Cousine zu uns kommt, muss sie immer ein Lied mit ihm singen: ´Bruder Jakob`, auf Deutsch. Er will nämlich dazu seine Gebärden machen, weil er das aus der Logopädie kennt. Am besten gefällt ihm: ´schläfst du noch`. Dann legt er seine Hände so schräg an den Kopf, macht die Augen zu und lacht und lacht!

Die erste Gebärde war ja ´Mama` - dieses Streichen im Gesicht. Ich hieß dann auch ´Mama`. Und in der nächsten Woche sah er plötzlich meine Frau an, zeigte auf mich, und hat dann ´Papa` gebärdet! So unter dem Kinn.
Aus dem Lied kennt er auch ´hören`. Als eines Tages ein Flugzeug laut vorbeiflog, schaute er uns an und hob seinen Finger ans Ohr. Er freute sich dann so, dass wir ihn verstanden!

Wir können das noch gar nicht glauben. Wir hatten Angst, dass er durch die Behinderung nie richtig sprechen lernt. Für Kurush ist es ja noch schwieriger, weil wir Farsi sprechen. Er hört zwei Sprachen - und jetzt übt er mit den Gebärden sofort für beides.
Einige Wörter spricht er sogar schon aus. - Ja, wir sind sehr stolz auf Kurush!"


Fabian*

"Unser Sohn hatte einen heilpädagogisch geförderten Platz bekommen in einem integrativen Kindergarten, weil nach drei Jahren deutlich wurde, dass er sich in manchem verlangsamt entwickelt", so berichtet die Mutter.
"Was mir aufgefallen war, würde ich nicht als behindert bezeichnen. Fabian ist immer schon sehr vorsichtig gewesen und mir kaum von der Seite gewichen. Er mag es halt, wenn alles so bleibt, wie es ist. Sonst bekommt er Angst.
Im Kindergarten hat er Krankengymnastik. Die Erzieher meinten allerdings, ich sollte mich mal beraten lassen, damit er bis zur Einschulung gut gefördert wird.

Ehrlich gesagt, hatte ich im Innern schon manchmal ein komisches Gefühl - so im Vergleich mit anderen Kindern. Na ja, jetzt bin ich jedenfalls froh, dass in der Logopädie alles mögliche nochmal getestet wurde und ich auf der sicheren Seite bin. Fabian wird versorgt und braucht mit seinen Viereinhalb eben noch Unterstützung, damit alles ins Lot kommt.

Er blüht richtig auf. Vorher konnte ich mir gar nicht vorstellen, wie spielerisch das ablaufen kann. Die ersten Erfolge waren, dass er auf Besuchen bei Freunden plötzlich nicht mehr ständig nach mir Ausschau halten musste. Er blieb allmählich einfach sitzen und hat dann einige Gebärden beim Sprechen eingesetzt. Das macht ihn sicher.
Mittlerweile verwechselt er auch nicht mehr ´über` und ´unter`. Er nimmt bloß seine Hände dazu und merkt ja damit direkt, wo oben und unten ist. Dann sagt er das richtige Wort.
Und noch etwas: Fabian liebt zwar nach wie vor Gewohnheiten. Aber er kommt mir immer beweglicher vor - längst nicht mehr so darauf erpicht, dass sich nichts verändern darf."


Jan*

Jan war mit drei Jahren in eine meiner damaligen integrativen Gruppen der Kindertagesstätte gekommen. Große Ernsthaftigkeit spiegelte sich in seinen zarten Gesichtszügen, wenn er sich auf Dinge konzentrierte und sie auf ihre Zusammenhänge hin prüfte. Unter flachsblondem Haar wölbte sich eine markante "Denkerstirn", die rein äußerlich wie ein Hinweis erschien auf seine schnelle Auffassungsgabe. Bald schon fiel er durch sichere Wortgewandtheit, ja Liebe zur Sprache auf.
Tobten andere Kinder, zog er sich sofort zurück und erfand Ausreden, warum er verhindert sei. Stieg er im Schutz von Erwachsenen dann doch kurz mit ein, überzog er jede Bewegung albern ins Extrem, spielte den Kasper und blieb dabei auf der Stelle stehen.
Jan widmete sich mit besonderem Interesse behinderten Kindern und zwar gerade solchen, die Probleme in der Kommunikation hatten.

Nun war das Gebärden nicht nur auf jene beschränkt, sondern zog sich als mein zusätzliches Angebot für alle ganz selbstverständlich durch den gesamten Gruppenalltag, begleitete z. B. die Rituale im Morgenkreis, viele Spiele und Lieder, die Essenssituationen und etliches mehr.

Demonstrativ verweigerte Jan sich hier über lange Zeit nicht nur jeder Motivierung zum Mitgebärden, sondern versuchte auch, es lächerlich zu machen und damit die Gemeinschaft zu sprengen. - Alles Körperliche schien bei ihm mit Angst besetzt.
Erst nach und nach gebärdete er sporadisch und genoss nun sichtlich, sich so zu erleben.

Nicht selten beobachtete er zudem während seines Spielens auch neugierig meine Aktivitäten, bei denen unter therapeutischer Schwerpunktsetzung für einzelne Kinder irgendwo im Raum  intensiv gebärdet wurde.
Nach einer Weile berichteten seine Eltern: " Jan hat zu Hause begonnen, einige Gebärden vorzuführen. Als ´Lehrer` weiht er uns jetzt ganz stolz in diese Zeichen ein."
Damit unterschied er sich keineswegs von anderen Kindern.

Nach circa einem Jahr allerdings stellte er zunehmend intellektuelle Fragen zu diesem Thema und sinnierte z. B. über die Unterschiede der beiden Sprachen: Er klopfte vertraute Wörter nun auf Eigenarten hin ab - etwa das Wort "Handschuh", das im Gebärden eben nicht auf den Schuh verweist.
Begeistert stieß er auf Wortwurzeln wie in "be-greifen" und machte sich einen Spaß daraus, als Detektiv nach Ähnlichem zu forschen. War etwas derart in seinen Einzelteilen "entlarvt", setzte Jan genau diese je separat mit den Händen um. Dabei erhielt z. B. Maul-Wurf oder ein-fallen (= eine Idee bekommen), Taschen-Lampe, Dreck-Spatz für ihn über seine sichtbaren Gebärden-Ideen eine neue Attraktivität.

Fand Jan nun sogar Lücken in der Welt der gesprochenen Wörter (etwa: nicht mehr durstig sein), versuchte er kreativ, diese mit Gebärden zu füllen. Sein Erfindergeist war geweckt, sich über Sprachliches körperlich umzusetzen.
Das wiederum löste zwangsläufig mit den anderen Kindern rege Diskussionen über "echte Gebärden" aus, über "richtig" und "falsch", festgeschriebene Regeln und deren Nützlichkeit.

Jans Kreationen ließen sich natürlich nur äußerst selten im Gebärdenlexikon bestätigen und flogen spätestens dann auf, sobald die Eltern mit Schmunzeln im Kindergarten nachfragten. Trotzdem - so berichteten sie - behielt er für sich das Gefühl, jetzt sehr nah mit Sprache als einem Abenteuer verbunden zu sein:
"Er hebt, wenn er redet, nicht mehr so ab, sondern kostet in vollen Zügen aus, was ihm bisher ein bisschen fehlte: nämlich einfach mal so körperlich rumzuprobieren. Er merkt, dass er beim Gebärden mit Wörtern quasi kneten kann, was er ja sonst eher meidet. Jan macht sich wohl dieses Konkrete im Gebärden zunutze. - Und er fängt jetzt auch an, zu toben und zu tanzen."


Judith*

"In der Schwangerschaft hatte ich eine Infektion, die behandelt wurde. Judith hat aber mit neun Monaten angefangen zu krampfen. Ob das im Zusammenhang steht, weiß man nicht. Seitdem, d.h. seit mehr als vier Jahren, ist sie wegen Epilepsie medikamentös eingestellt.

Trotzdem wird sie durch die Krankheit im Alltag immer wieder rausgerissen, unterbrochen, weil sie oft einen Anfall hat. Natürlich leben wir damit. Was allerdings sehr schön geworden ist: Seit Judith auch zu manchen Wörtern gebärden kann, hat sie etwas Sicheres für sich - zum Festhalten.
Sie war in ihrer Sprachentwicklung ganz unauffällig. Da brauchte sie gar keine spezielle Förderung. Doch wenn sie nun in einer völlig normalen Spielsituation mit Gleichaltrigen ist, nimmt sie manchmal Gebärden hinzu. Sie scheint das sehr zu mögen. Es gibt ihr offenbar etwas optisch Verlässliches, auf das sie bei allen Unterbrechungen zurückgreifen kann."  


Marie*

"Meine Tochter ist jetzt ungefähr vier. Die ersten Jahre und gerade halt nach der Trennung war sie oft sehr zurückhaltend und hat sich nur selten getraut, auf andere zuzugehen. Sie brauchte dann noch meine Unterstützung, selbst wenn sie die Kinder schon lange kannte", so berichtet ihr Vater, der ab Maries Geburt in Elternzeit gegangen ist.
"Mit dem Sprechen hat sie auch etwas später begonnen, was mich erst wirklich beunruhigt hat. Doch inzwischen ist alles ganz normal. Das konnte mir auch die Kinderärztin bestätigen."

Er unterbricht, denn seine Tochter ist gerade gekommen und bittet ihn, ihre Jacke zu nehmen. Liebevoll streicht er ihr über die seidigbraunen, langen Haare. Doch schon macht sie auf dem Absatz kehrt und läuft wieder zu den anderen zurück, die auf sie warten.

"Marie ist regelmäßig in einer privaten Tagesgruppe gewesen, die sie von Geburt an kennt und wo sie sich absolut wohl fühlt. Trotzdem war sie immer schüchtern, sobald irgendwelche kleinen Auseinandersetzungen anstanden. Wenn ich das miterlebte, konnte ich mich nur wundern. Denn eigentlich war sie bereits durchaus in der Lage, sich zu verteidigen oder auch sprachlich klar zur Wehr zu setzen. Natürlich habe ich sie dann dazu ermuntert und auch zu Hause versucht, sie zu stärken. Aber man soll sich ja am besten nicht allzu sehr einmischen."

Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht. "Tja, was soll ich sagen?! Vielleicht klingt es jetzt übertrieben. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass man zumindest einen Grund für diese rasante Wende ausmachen kann, die ich seit ungefähr zwei Monaten bei Marie beobachte: nämlich die Gebärden!"

Vielsagend setzt er eine Pause und nickt. "Früher hab ich gedacht, dass das wohl nur etwas speziell für Gehörlose ist, bis mir eine Freundin davon erzählte, wie ihre Tochter durch die Gebärden rundum gefördert wird. Ich wollte Marie das dann auch bieten. Und nun sehe ich es ja selber."
Er schüttelt amüsiert den Kopf. "Ich glaube, angefangen hat das sogar schon nach der zweiten Woche. Da zeigte sie mir zu Hause die erste Gebärde. Es war das Zeichen für Saft. - Nein, Zeichen darf ich ja nicht sagen, meint Marie. Sie hat mich nämlich belehrt, dass das keine Zeichen sind, die man einfach so macht. Das ist eben sprechen mit ohne Wörter. So nennt sie es. Obwohl sie ja auch dabei spricht. Aber egal. Marie hat da jedenfalls zugegriffen."

Er lacht, als ihm die doppelte Bedeutung auffällt und demonstriert die Gebärde für Saft.
"Nicht dass ich schon so vieles könnte wie meine Tochter! Die lernt dauernd neue Gebärden. Doch die erste war halt Saft. Es gab bei uns nämlich häufig die Diskussion, ob sie noch mehr bekommen dürfte oder erst mal nur Wasser. Und an dem Abend damals verblüffte sie mich mit dieser Handbewegung. Sie setzte die dermaßen selbstbewusst in Szene! Wahrscheinlich, weil sie genau wusste, dass mir das imponiert und sie die Situation so in der Hand hatte."
Er muss erneut lachen und fügt hinzu: "Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war so  fasziniert, dass mir auch erst mal kein Argument mehr dagegen einfiel. Das saß!"

Er fährt sich mit der Hand kurz über den Nacken. "Erstaunlicherweise kam in der nächsten Zeit nicht direkt was Neues. Vielleicht reichte ihr das ja. Nur plötzlich, seit ungefähr acht Wochen, verändert sich was: Marie wird zusehends selbstsicherer. Vor allem, wenn es zwischen den Kindern Konflikte gibt und sie etwas will oder verteidigen muss. Dann stellt sie sich hin und beginnt forsch mit dem Zeichen für ´nein` - na ja, mit der Gebärde - erhebt ihre Stimme und gebärdet dazu einige Wörter. Mit Leidenschaft! Das macht auf die anderen Eindruck.
Ich glaube, sie fühlt sich in dem Moment damit stärker, irgendwie geschützt, so als hätte sie etwas zum Festhalten. Mir kommt es vor, als würde sie sich aus diesem konkreten Bewegen richtig Mut holen. Klar ist jedenfalls, dass sie jetzt immer öfter merkt, dass sie etwas bewegen kann - ja, tatsächlich: bewegen kann! - Und nebenbei: Manchmal kommen mir ganz neue Gedanken, was eigentlich so alles in unseren Wörtern steckt..."


Albert*

„Albert ist jetzt fünf Monate alt. Unglaublich, was er schon alles kann! Jeden Tag wird Neues entdeckt. Manchmal wüsste ich zu gern genauer, was da so in seinem Köpfchen abläuft.
Meine Freundin erzählte mir letztens von ihrem Kurs, in dem sie mit ihrer Tochter zusammen Gebärden lernt. Und dann hab ich die beiden gesehen, wie sie sich unterhalten! Bertha ist fünf Monate älter als Albert und spricht natürlich noch kaum. Aber sie kann schon einiges von sich mit diesen Gebärden verständlich machen, sodass meine Freundin dann präzise weiß: Möchte sie jetzt ein Bilderbuch schauen, ist sie müde, oder will sie noch mehr von etwas?! Ganz ohne zu quengeln.
Das hat mich doch sehr neugierig gemacht, und ich möchte das mit Albert auch anfangen. Er ist ja so interessiert - an seinen Händen und überhaupt an allem!“


Nina

„Als Nina geboren wurde, ahnten wir noch nichts von ihrer Erkrankung. Erst mit zwei Jahren lautete die Diagnose: Cri-du-Chat-Syndrom. Das hieß, schwere Entwicklungsverzögerung in allen Bereichen, schwere geistige Behinderung. Es wurde uns gesagt, dass sie niemals das Sprechen erlernen würde“, so berichtet Ninas Mutter.

„Die einzige Art, sich zu äußern, war ein schriller Sirenenton, den sie unvermittelt ausstieß, wenn sie mit ausgestrecktem Arm auf Dinge zulief, die sie interessierten. Das tat sie ständig und wandte sich dann aber abrupt ab, sodass wir nie dazukamen, auf die Situationen erklärend einzugehen. Nach zwei, drei Sekunden war sie bereits bei etwas Anderem.

Laute Geräusche machten ihr furchtbar Angst. Besonders der Straßenverkehr, Flugzeuge, bellende Hunde. Schon wenn sie einen Rettungswagen bloß sah, ohne das Martinshorn zu hören, konnte man sie kaum noch bändigen. Wir fragten uns, ob irgendwann einmal die Welt auf Nina nicht mehr so bedrohlich wirken würde.
Schlimm war auch, dass wir auf Grund ihrer Sprachlosigkeit nicht wussten, inwieweit sie über unerfüllte Bedürfnisse verfügte. Hatte sie überhaupt Wünsche? Quälte sie etwas, was wir übersahen? Was konnte sie verstehen? Was war schon im nächsten Moment vergessen? - Sie lächelte immer nur freundlich und zeigte nie Verärgerung.

Mit drei Jahren brachten wir sie zu einer Logopädin. Diese war allerdings nach einem Jahr Therapie am Ende mit ihrem Latein. Nina entzog sich ihr. Nichts bewegte sich. Leider ließ sie von da an keinen mehr an ihren Mund.
Wir wechselten ja dann, und es wurde eben ab der ersten Stunde mit Gebärden begonnen. Zu merken war für mich, dass Nina nun ganz anders angesprochen und motiviert war.“

Zu dieser Zeit, mit vier Jahren baut Nina noch keine Türme nach. Ebenso wenig füllt sie z. B. Klötze unter Anleitung in einen Kasten. Ein zugerollter Ball erweckt kein Interesse. Sie zeigt nur stetiges Lächeln und bleibt im Sprachverständnis auf das bezogen, was für sie ritualisiert und situativ zu erschließen ist – etwa das Essen, sobald sie vor dem gefüllten Teller sitzt.

Nachdem sie drei Monate Gebärden gesehen hat, verändert sich ihr Verhalten insofern, als dass sie nun freudig etwa vier der Handbewegungen manchmal imitiert – stereotyp, ohne deren Bedeutung zu verstehen, aber um Kontakt zu signalisieren. Nach fünf Monaten sind dies 11, und ihre Aufmerksamkeitsspanne hat sich auf 10 Sekunden erhöht.

Nach einem halben Jahr zeigt sie plötzlich spontan von sich aus eine Gebärde, mit der sie ihren eigenen Wunsch zu erkennen gibt. Die Mutter schildert:
„Ihre erste Gebärde war Brot. Ich weiß es noch wie heute. Sie war so stolz und so glücklich! Nina arbeitete sich ab da mit Begeisterung durch Gebärden durch, behielt viele in kürzester Zeit und fing an zu kommunizieren! Aber das Schönste war: Sie fing an zu begreifen!
Im wahrste Sinne des Wortes: Sie konnte nun benennen, was sie in den Händen hielt! Als sie die Gebärden ´Flugzeug` und ´Sirene` mit nach Hause brachte, war zugleich ihre Panik vor den realen Begegnungen damit verschwunden.
Wir übten fleißig, und eine noch größere Innigkeit und Lebenslust tat sich für uns beide auf.“

Ist Nina ohnehin von Liebe umhüllt, und wird jeder ihrer Schritte in aufmerksamer Fürsorge und umsichtiger Geduld begleitet, so greift die Mutter jetzt auch nicht nur jede neue Gebärde sofort für den eigenen Alltag auf, sondern sieht bedeutende Zwischentöne in der Entwicklung:
„Gestern hat sie sogar zwischen ´heiß` und ´warm` unterschieden! Und ich musste lachen, als sie ´Schwein Ohr Hund` gebärdete. Ich sah sofort: Ja tatsächlich, auf dem Bild vor uns hatte das Schwein solche Ohren wie Hunde. – Wie genau Nina mittlerweile hinschaut!“

Zwei Wochen nach der ersten Gebärde tauchten bereits solche Verbindungen von Nomen auf. Zwei Monate später ordnet Nina einige Farben korrekt zu, gebärdet zu unbekannten Bildern. Sprache lässt sie zur Ruhe kommen und inzwischen häufiger an einem Ort verweilen. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich allmählich.

Eines Tages schaut sie versonnen durch das Fenster einem Vogel nach, schweigt, wendet sich in den Raum zurück und gebärdet vor sich hin: ´gleich`! (= identisch)
Dann rennt sie plötzlich zum Regal, sucht aufgeregt ein Buch und zeigt, während sie ´Vogel` gebärdet, auf dessen Bild. Jauchzend weist sie nach draußen, gebärdet nochmals ´Vogel` und ´gleich` und mit erneutem Blick auf das Buch wiederum ´Vogel`. Während sie dies etliche Male wiederholt, muss sie lauthals unter Tränen lachen.
In diesen Augenblicken erlebt Nina sich offenbar ganz bewusst als der Sprache mächtig und versteht eine Abstraktion: die begriffliche Gleichsetzung von etwas Realem und seinem Bild.
Nach einem Jahr Therapie beantwortet sie nicht nur Wo-, sondern auch Was-Fragen.

In jener Zeit kann die Mutter berichten:
„Inzwischen gebärdet Nina schon mit Verhältniswörtern. Erst gestern hat sie mir erklärt, dass ihre Puppe im Kinderwagen sitzt! Dabei zeigte sie: Puppe, sitzen, in, Kinder, Auto. Das finde ich sensationell! – Und der geistigen Stärke folgt auch die körperliche.“

Obwohl es für sie auf Grund des Syndroms mehr als eine Herausforderung ist, stimmlich zu artikulieren, lässt sie sich zunehmend auf dieses „Abenteuer“ ein, wendet sich ihrem Mund zu, erlaubt Berührungen. Bei Einschulung spricht sie alle Laute – außer f, qu, sch und w.

Heute ist Nina zehn Jahre alt, und die Mutter resümiert:
„In den Jahren damals hat Nina sich in rasantem Tempo entwickelt. So schnell schon konnte sie etwas erkennen und dann benennen, vergleichen – nicht zuletzt eben auch: Was gefällt mir? Was finde ich nicht so toll? Was schmeckt mir? Mag ich den einen und den anderen nicht?! – Einmal mit der Eröffnung dieser neuen Welt infiziert, war dieser Vorgang nicht mehr zu stoppen. Es war wunderbar!
Ich hatte vorher tatsächlich etwas Angst, dass die Gebärden dazu hätten führen können, dass Nina kein Interesse mehr an der Lautsprache hätte. Diese Angst war absolut unbegründet. Die Gebärden haben ihr erst das Tor zur Lautsprache geöffnet! - Etwas, was wir Eltern nie für möglich gehalten hätten. Die Gebärden halfen ihr, das Wort sprichwörtlich vor Augen zu haben und es im Kopf so umzusetzen, dass es seinen Weg auch nach draußen bahnt.
Sie spricht jetzt frei und unbefangen, in bis zu Vier-, manchmal Fünfwortsätzen und nimmt, wenn sie nicht verstanden wird, die Gebärden zu Hilfe. Mit gesundem Selbstbewusstsein.

Im Vergleich zu dem Kind, welches verängstigt die Welt empfunden hat, weil es keine Sprache hatte, ist Nina ein Riese. Sie ist ein offener, herzlicher und supermutiger Mensch, der manchmal ein paar Bäume zu viel ausreißen will. Ich denke, nach den Berichten, welche Eltern von Kindern mit dem gleichen Syndrom abgegeben haben, ist Nina weit entfernt von dem typischen Erkrankungsbild.
Ich wünsche auch allen Eltern und Kindern: Haben Sie immer eine glückliche Hand!“


* Die Namen der Kinder wurden geändert.